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Unter der Rubrik "Fundstücke" stellt unser Mitglied Christine Hieber, bekannt als maritime Autorin und lamgjährige Ausbildungsoffizierin auf der Viermastbark KRUZENSHTERN, interessante Geschichten zusammen, die irgendwie mit der PEKING oder anderen Flying-P-Linern zusammenhängen.

„Geheime“ Verbindungen zwischen

PEKING und TITANIC

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PEKING und TITANIC, zwei Schiffe, die noch heute berühmt sind – das eine, weil es noch immer existiert, obwohl die Zeit seinesgleichen schon lange vorbei ist, und das andere, weil es aufhörte zu existieren, bevor seine Zeit begonnen hatte, auf eine Art und Weise, die über 100 Jahre später immer noch unzählige Menschen in ihren Bann zieht.
TITANIC und PEKING – die bekannte These des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram, dass jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen über höchstens sechs Schritte verknüpft ist, scheint nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Schiffe zuzutreffen.

Beide Schiffe entstanden auf zu ihrer Zeit jeweils führenden Werften und das noch fast gleichzeitig. Die PEKING wurde in den Jahren 1910 bis 1911 bei Blohm & Voss in Hamburg gebaut, die TITANIC entstand um dieselbe Zeit auf den Hellingen der nordirischen Werft Harland & Wolff, wenn sie auch erst im April 1912 auf ihre erste und letzte Fahrt gehen sollte. Hier gibt es schon die erste Verbindung, über vier Schritte: von der TITANIC über Gustav Wilhelm Wolff zur HAPAG zu Ferdinand Laeisz zu F. Laeisz zur PEKING – ein typisches Beispiel der internationalen Beziehungen in den Gründerjahren.
Gustav Wilhelm Wolff, dem die Werft Harland & Wolff den zweiten Teil ihres Namens verdankt, war nämlich 1848, im zarten Alter von nur 14 Jahren, von seiner Geburtsstadt Hamburg nach Liverpool und später nach Belfast ausgewandert. Dort machte ihn Edward Harland 1860 zum Geschäftspartner und Miteigentümer seiner deshalb in „Harland & Wolff“ umbenannten Werft. Wolff akquirierte durch seine alten Verbindungen nach Hamburg die unter anderem von Ferdinand Laeisz gegründete HAPAG als Großkunde der Belfaster Werft – die erste, wenn auch nur lose Verbindung zwischen dem Flying P-Liner PEKING und der bei Harland & Wolff gebauten TITANIC.

Einen großen Unterschied zwischen den beiden Schiffen gab es allerdings: Die PEKING und ihr ein Jahr jüngeres Schwesterschiff PASSAT waren das Produkt von 2000 Jahren Erfahrung im Bau von Frachtsegelschiffen – Perfektion in jeder Hinsicht.
Ganz anders verhielt es sich mit der TITANIC und ihrem 1911 fertiggestellten Schwesterschiff OLYMPIC: Sie waren technisches Neuland in fast jeder Hinsicht. Als im September 1907 Lord W. J. Pirrie, seit 1890 Mehrheitseigentümer von Harland & Wolff, die ersten rohen Skizzen der geplanten Neubauten den Leuten zeigte, die seine Vision umsetzten sollten, starrten Chefkonstrukteur Thomas Andrews, Direktor Alexander M. Carlisle und Ingenieur-Assistent Edward Wilding fassungslos auf die auf dem Zeichentisch ausgebreiteten Papierrollen. Die neuen Schiffe sollten um die Hälfte größer werden als jedes andere zu dieser Zeit existierende Schiff, größer als jedes andere bis dahin von Menschenhand gebaute, bewegliche Objekt.

Mit William Pirrie sind wir bei der direkten Verbindung von der TITANIC zur PEKING angekommen.

Darf ich vorstellen:
William James Pirrie (1847-1924) 03 Pirre Capt. Smith onboard TITANIC origo sauf dem Foto zu sehen an Bord der TITANIC zusammen mit deren Kapitän E.J. Smith, seit 1906 „Baron Pirrie of the City of Belfast“, seit 1921 „1st Viscount Pirrie“, genannt Lord Pirrie, war ein typischer Vertreter des Viktorianischen Zeitalters. Er hatte sich bei Harland & Wolff vom Bürolehrling bis zum Mitbesitzer hochgearbeitet und die Belfaster Werft zu einer der größten und technisch fortschrittlichsten Schiffswerften der Welt gemacht. Daneben pflegte er eine lange und ebenso erfolgreiche politische Karriere, wurde im Jahr 1900 Präsident der Britischen Schifffahrtskammer und sogar für einige Jahre Vizekanzler der Universität Belfast.
In den Jahren des Ersten Weltkriegs war Pirrie Mitglied des „War Office Supply Board“, einer Unterorganisation des Kriegsministeriums, die sich um Nachschub und Versorgung kümmerte, sowie “Comptroller General of Merchant Shipbuilding” und damit verantwortlich für den Bau von Handelsschiffen. Technischen Neuerungen immer aufgeschlossen, propagierte William Pirrie als einer der ersten den Bau von standardisierten Frachtdampfern.

„Das ist ja alles ganz interessant, aber…“, so fragt sich der geneigte Leser, „… was hat diese schillernde viktorianische Figur mit der PEKING zu tun?“ Der ehrwürdige Lord hatte sehr wohl und das kam so:

Pirrie und die PEKING04 800px William Orpen The Signing of Peace in the Hall of Mirrors Versailles s

Nach vier langen Jahren war im November 1918 der Erste Weltkrieg mit der Kapitulation der Achsenmächte Österreich-Ungarn und Deutschland zu Ende gegangen. Im Vertrag von Versailles bestimmten die siegreichen Alliierten unter anderem, dass die deutsche Handelsflotte aufzuteilen sei zwischen Großbritannien, Frankreich, den USA und einer Reihe kleinerer Nationen wie Italien und Griechenland. Alle deutschen Handelsschiffe über 1600 Bruttoregistertonnen mussten abgeliefert werden und die Hälfte der Schiffe zwischen 800 und 1600 BRT - insgesamt 1768 Schiffe, darunter natürlich auch die deutschen Segelschiffe, von denen ein Gutteil den Krieg in der Internierung in Chile überstanden hatten.
Lord Pirrie war zwischenzeitlich „Shipping Controller“ des Wiedergutmachungsausschusses, wie die Reparationskommission der alliierten Siegermächte korrekt heißt, geworden. Damit war es seine Aufgabe, die Übergabe der den Briten zugeteilten oder in britischen Häfen liegenden deutschen Schiffe an ihre neuen Eigentümer zu organisieren.
Nachdem die neuen alliierten Eigentümer sich außerstande gesehen hatten, die in Südamerika liegenden deutschen Segelschiffe dort zu übernehmen, hatten die deutschen Segelschiffsreeder den Alliierten vorgeschlagen, die Rückführung ihrer Schiffe nach Europa zu organisieren, wenn sie dafür die Erträge aus der Ladung erhielten. So war die PEKING nach der Entladung ihrer Salpeterladung am 21.Januar 1921 in London eingetroffen, wo sie aufgelegt werden sollte bis der neue Eigentümer Italien über sie verfügte. Bis alle Details geregelt waren, dauerte es noch gut drei Monate, aber am 10. Mai 1921 wurde die PEKING von F. Laeisz offiziell an das Königreich Italien übergeben. Der Briefwechsel der vom italienischen Staat beauftragten Londoner Schiffsmakler-Firma Farina, Galliano, Brizzolesi & Co. mit Lloyd´s of London die PEKING betreffend ist noch vorhanden.
Danach passierte erst einmal – nichts. Kein italienischer Reeder hatte Interesse an dem Großsegler, nicht einmal geschenkt wollten sie das Schiff haben. Ein im Frühjahr 1922 über seinen Londoner Schiffsmakler Clarkson unterbreitetes Kaufangebot für die PEKING des finnischen Reeders Gustav Erikson, des letzten großen Segelschiffsreeders, wurde von den Italienern als zu niedrig abgelehnt. Also lag die PEKING weiter in London an der Kette und damit unter Lord Pirries Verantwortung. Die gesetzlich vorgeschriebene Mindestbesatzung stellte der alte Eigentümer F. Laeisz – Kapitän Oellrich war mit einigen Mann an Bord geblieben.
Um die Angelegenheit „PEKING“ vier Jahre nach Kriegsende endlich zum Abschluss zu bringen, riet Lord Pirrie Ende 1922 den Italienern, dem früheren Eigentümer F. Laeisz Gelegenheit zum Rückkauf zu geben.
Zwischenzeitlich hatten Erich Laeisz und sein Prokurist Paul Ganssauge nämlich begonnen, ihre Flotte aus Salpeterseglern und Bananendampfern wieder neu aufzubauen. Woher F. Laeisz in den Notjahren nach dem verlorenen Weltkrieg das Geld nahm, das ist eine Geschichte, die bei anderer Gelegenheit erzählt werden wird. Für 8500 £ wurde man sich handelseinig – nach heutigem Geldwert ungefähr 460.000 £ (lt. Retail Prices Index, UK Office for National Statistics), ca. 513.000 Euro.
Im Januar 1923 überführte Kapitän Oellrich die PEKING in ihren alten Heimathafen Hamburg, wo sie erst einmal grundlegend überholt wurde. Am 26. April 1923 verließ die Viermastbark Hamburg mit Ziel Valparaiso. Nach neun Jahren war sie endlich zurück in ihrem angestammten Fahrtgebiet.

Lord Pirrie, der britische Werftmagnat und Erbauer der TITANIC, war also letztendlich unmittelbar dafür verantwortlich, dass die PEKING in den 1920er Jahren nicht abgewrackt wurde wie so viele andere Segelschiffe, sondern heute noch existiert.

 

Autor & Copyright: Christine Hieber
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Fotos:
OLYMPIC und TITANIC am Ausrüstungskai der Werft Harland & Wolff: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0e/Olympic_and_Titanic.jpg

PEKING: © Will van Dorp, https://tugster.wordpress.com/

William J. Pirrie und Edward Smith, Kapitän der TITANIC: Dieses Foto kursiert in unzähligen Versionen im Internet, Copyright-Inhaber nicht feststellbar, Quelle hier: https://rewrite.origos.hu/s/img/i/1704/20170403titanic201714.jpg (Roger-Viollet/© Maurice-Louis Branger / Roger-Viollet/Maurice-Louis Branger)

Gemälde von William Orpen „Vertragsunterzeichnung in der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles 1919 – Wikimedia, gemeinfrei