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Unter der Rubrik "Fundstücke" stellt unser Mitglied Christine Hieber, bekannt als maritime Autorin und lamgjährige Ausbildungsoffizierin auf der Viermastbark KRUZENSHTERN, interessante Geschichten zusammen, die irgendwie mit der PEKING oder anderen Flying-P-Linern zusammenhängen.

Die PEKING  als ARETHUSA

Vom Frachtsegler zum Sozialprojekt
Das zweite Leben der Viermastbark PEKING als stationäres Schulschiff ARETHUSA 1932 – 1974

Über die Flying P-Liner im Allgemeinen und über die PEKING im Besonderen wurde schon viel geschrieben, über die Zeit der PEKING als britisches stationäres Schulschiff ARETHUSA (II) jedoch eher wenig, obwohl sie für tausende junger Menschen ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Teil ihres Lebens war. Das kam so:
Der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932, als selbst moderne Motorschiffe massenweise aufgelegt werden mussten, konnte sich auch die Reederei Laeisz nicht entziehen. Deshalb sah man sich gezwungen, bis auf die zwei modernsten - PADUA und PRIWALL - alle Segelschiffe zu verkaufen. Interessenten waren allerdings dünn gesät, es gab eigentlich niemanden außer dem finnischen Reeder Gustav Erikson, dessen Geschäftsmodell es war, große Segelschiffe, meist Viermastbarken und ein paar Vollschiffe, in gutem Zustand billig zu kaufen, sie mit Besatzungen aus zahlenden Jungen noch billiger zu fahren und zum Schrottwert wieder zu verkaufen, sobald größere Reparaturen fällig wurden. Damit war er bis zu seinem Tod im Jahre 1947 erfolgreich. Aber mit Erikson kam dieses Mal kein Geschäft zustande, also verkaufte Laeisz die PEKING mit Kaufvertrag vom 9. September 1932 für 6250 Pfund Sterling an die „Shaftesbury Homes and Arethusa Training Ship Co." in London.

„Shaftesbury Homes and Arethusa Training Ship Co."
Die seit 1843 bestehende „Shaftesbury Homes and Arethusa Training Ship Co." ist eine der ältesten Wohlfahrtseinrichtungen Großbritanniens. Gegründet wurde sie als „Lumpenschule", in der Straßenkinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten und eine einfache Berufsausbildung bekamen, von dem Rechtsanwaltsgehilfen William Williams, nachdem er einer Gruppe schmutziger, halb erfrorener Londoner Straßenjungen begegnet war, die, mit schweren Eisenketten aneinander gekettet wie die Sklaven, auf ihre Abschiebung in die damalige britische Strafkolonie Australien warten.
Ihren Namen erhielt die Gesellschaft im Jahr 1866 von Lord Shaftesbury, der Williams über die 1844 gegründete Vereinigung der Lumpenschulen kennen- und schätzen gelernt hatte. Später konzentrierte man die Berufsausbildung auf seemännische Berufe, und noch später kamen noch Heime für obdachlose Kinder und Jugendliche in und außerhalb Londons dazu. 2006 wurde die Organisation in „Shaftesbury Young People" umbenannt. Ihre Ziele beschreibt sie heute folgendermaßen: „Junge Menschen aus sozialen Einrichtungen darin zu unterstützen, ihre eigene Stimme zu finden, gesund zu leben und für sich einen unabhängigen und positiven Platz in der Gesellschaft zu entwickeln und zu erreichen".

Lord Shaftesbury war der Überzeugung, dass Straßenjungen am besten auf See aufgehoben wären, egal ob in der Marine oder in der Handelsseefahrt. Um sie darauf vorzubereiten, lieh die Gesellschaft von der Royal Navy eine ausgediente hölzerne Fregatte, die CHICHESTER, die in der Themse vor Greenhithe verankert wurde und 250 Jungen beherbergen konnte. Von 1866 bis 1874 hatten schon 1300 vorher obdachlose Jungen auf dem Schiff eine solide Berufsausbildung bekommen.
Wegen des großen Erfolges der CHICHESTER und dank der großherzigen Spende von Lady Burdett-Coutts kaufte die Gesellschaft dann im selben Jahr für 5000 Pfund Sterling eine weitere hölzerne Fregatte, die ARETHUSA (I), die ihren Liegeplatz neben der CHICHESTER bekam. Unter dem neuen Schirmherrn, dem damaligen Prince of Wales und späteren König Edward VIII, der sich schon als junger Mann besonders für die einfachen Leute einsetzte, wurde die ARETHUSA (I) im Jahr 1919 sogar in den Namen der Organisation aufgenommen.
Heute gibt es immer noch zahlreiche Sozialprojekte im Zusammenhang mit Segelschiffen. Da seien nur die schwimmenden Schulen, u.a. die Schoner THOR HEYERDAHL und FRIDTJOF NANSEN erwähnt, sowie der Bau der STAD AMSTERDAM, der auch als Ausbildungsprojekt für benachteiligte Jugendliche diente.

Mit heutigen Sozialprojekten hatte das Leben auf CHICHESTER und ARETHUSA (I) allerdings herzlich wenig zu tun. Die Kinder wurden nur mit einer Nummer gerufen; sparsames Essen – das einzige Gemüse waren Kartoffeln – und strenge Disziplin mit Prügelstrafe waren an der Tagesordnung. Im Gegensatz zum damals in den Kriegs- und Handelsmarinen der Welt noch üblichen Vorgehen durfte auf CHICHESTER und ARETHUSA (I) nur der Kapitän zuschlagen, und das höchstens 24mal sowie ´nur´ mit Birkenreisern, nicht mit der in der Navy bis ungefähr 1870 üblichen neunschwänzigen Katze oder, wie besonders auf amerikanischen Segelschiffen üblich, mit Belegnägeln. 24 Schläge gab es für „Unanständigkeit" oder „unmoralisches Benehmen", 12 Schläge für Diebstahl, beides mit nachfolgendem Verweis von der Schule. Flucht brachte ebenfalls 12 Schläge ein, allerdings ohne direkten Verweis. Kleinere Vergehen wurden mit 6 Schlägen bestraft.
Die Ausbildung jedoch war gründlich. Sie bestand aus Arbeit mit Kompass und Lot, Knoten und Spleißen, Segel Nähen, Lernen aller Teile einer Takelage und aller Seemannsarbeiten inklusive Zimmermanns- und Schneiderarbeiten. Nach dem Abschluss bekamen die Jungen noch die Grundausstattung für einen Seemann mit auf ihren weiteren Lebensweg – einen Satz Bekleidung inklusive Ölzeug, eine Decke, Nähzeug, Handtuch, 2 Kämme, 4 Pfund Seife und einen Seesack.

Das System der stationären Schulschiffe zur seemännischen Grundausbildung blieb jedoch umstritten, in Großbritannien genauso wie in Deutschland.
„... Der Nachteil, der gegen das System der Kadettenschiffe (stationären Schulschiffe. Anm. d. Übers.) vor allem genannt werden muss, ist, dass die Anzahl der Jungen auf einem Schiff es nicht zulässt, dass sie die praktische Erfahrung bekommen, die das Schicksal des Schiffsjungen ist, der als Mitglied der Schiffsmannschaft jede notwendige Aufgabe vollwertig zu erfüllen hat. Dem Kadett wird gezeigt, wie die Sache gemacht werden muss und gelegentlich muss er sie auch machen, aber niemals in dem Maße wie ein Schiffsjunge. Dieser Mangel an Gelegenheit zeigt sich oft in solchen Details wie beim Festmachen oder Verladearbeiten.
Bis einige Jahre vor dem Krieg (dem 1. Weltkrieg 1914-18. Anm. d. Übers.) fand die normale Schiffsjungen-Zeit auf einem Segelschiff statt. Die Vorschriften bestanden darauf, dass „Zeit" unter Segeln zu verbringen war, aber in der Mehrzahl der Fälle „verließ" der Junge nicht „die See und ging zum Dampf" bevor er nicht zumindest einige Patente erworben hatte, und häufig nicht, bevor er ein voll qualifizierter Kapitän geworden war. Dieser Weg ist jetzt unmöglich in der Britischen Handelsmarine, weil wir keine Tiefwasser-Segler mehr haben. ...." So das Lamento im 1936 erschienenen Band 4 der damals sehr populären Heftreihe „Shipping Wonders of the World".

ARETHUSA (II) ex PEKING
Anfang der 1930er Jahre hatte die 1849 gebaute hölzerne ARETHUSA (I) das Ende ihres langen Lebens erreicht. Sie war reif zum Abwracken, ein Schicksal, das die 1843 gebaute CHICHESTER schon früher ereilt hatte. Ersatz wurde gebraucht, gerne ein geräumiges, großes Segelschiff in gutem Zustand. Der Blick der Gesellschaft fiel auf die PEKING der Reederei Laeisz, die zum Verkauf stand. Man wurde sich schnell einig und die PEKING begab sich, gezogen von einem Dampfschlepper auf den kurzen Weg von Hamburg nach England geschleppt, zum letzten Mal unter dem Kommando von Kapitän Jürgen Jürs, der später die PADUA führte. Nach der Umbenennung des Flying P-Liners in ARETHUSA (II) wurden in der seit dem frühen 16. Jahrhundert (und noch bis 1984) aktiven Marinewerft in Chatham der Sandballast durch eingegossenen Beton ersetzt, die Ladeluken verschlossen, ein weiteres Deck eingezogen, Wohnkammern, Schul- und Sporträume sowie weitere für den Betrieb als stationäres Schulschiff notwendige Einrichtungen eingebaut. Die Silhouette des Schiffes blieb allerdings im Großen und Ganzen erhalten, denn weder wurde die Poop mit dem Mittschiffshaus verbunden, noch die Aufbauten erweitert. Später wurde die Takelage reduziert, d.h. die Obermars- und Oberbrahmrahen sowie die Besangaffel abgenommen, wie das Foto von 1933 zeigt. Zum Abschluss versah man den Rumpf mit einem schwarz-weißen Pfortenband, wie es noch heute die KRUZENSHTERN (ex PADUA) hat.

Am 25. Juli 1933 eröffnete der Bruder des Prince of Wales, der spätere König Georg VI, das stationäre Schulschiff für den Betrieb am neuen Liegeplatz in Upnor im Medway, einem Fluss, der bei Sheerness in die Themse mündet.

Während des 2. Weltkriegs wurde das Schiff als HMS PEKIN in die Royal Navy eingegliedert wurde, weil es dort schon eine HMS ARETHUSA gab. Nachdem die Jungen evakuiert worden waren, bis auf 50, die schon alt genug für den Dienst in der Marine waren, diente die HMS PEKIN als Wohnschiff für Matrosen der Royal Navy.

Zum Filmstar wurde die ARETHUSA (II) entgegen anderslautenden Gerüchten allerdings nie. In dem 1964 gedrehten Krimi „Murder Ahoy!" aus der Reihe mit der exzentrischen Detektivin Miss Marple, ist es ein anderes Schiff, die WORCESTER, die unter dem Namen BATTLEDORE die gewohnte Rolle als von einem Wohltätigkeitsverein betriebenes Schulschiff spielt.

Gegen Anfang der 1970er Jahre war es vorbei mit der einst so glorreichen britischen Handelsmarine. Die beginnende ´Container-Revolution´ machte den mannschaftsintensiven alten Stückgutschiffen den Garaus, der Rest der Handelsflotte wurde innerhalb weniger Jahre ausgeflaggt und mit billigen Seeleuten vorwiegend aus Ost- und Südasien bemannt. Die Überfischung der traditionellen Fanggründe bedeutete gleichzeitig das Ende der vormals riesigen britischen Fischereiflotte. Mit diesen Veränderungen verschwand auch die Nachfrage nach britischen Seeleuten.

Dazu kamen für die „Shaftesbury Homes and Arethusa Training Ship Co." noch die erheblichen Unterhaltskosten für die inzwischen schon fast 60 Jahre alte Viermastbark, obwohl man das Rigg schon früher weitestgehend abgenommen hatte. Zuerst hatte es, wie bereits berichtet, schon 1933 die Obermars- und Oberbramrahen getroffen, dann im Laufe der Zeit alle Rahen am Groß- und Kreuzmast. Später wurde der ehemals stolze Segler dann vollends zur Hulk, als die Vorunterbramrah und die drei Bramstengen abgenommen wurden. Trotzdem waren bis 1974 an die 100.000 Pfund Sterling Kosten für ausstehende dringende Unterhaltsarbeiten aufgelaufen.

Deshalb entschloss sich die Gesellschaft im Jahr 1974, nach ziemlich genau 130 Jahren, die Schule für angehende Seeleute zu schließen und die Viermastbark zu verkaufen, obwohl man 1971 noch eine 22 m lange Ketsch gekauft hatte, die nach dem Verkauf der ARETHUSA (II) wiederum den traditionellen Namen ARETHUSA (III) erhielt und bis 1982 betrieben wurde, aber nicht mehr als Ausbildungsschiff für angehende Seeleute. Insgesamt waren auf den ARETHUSAs (I) und (II) über 12.000 Jungen ausgebildet worden.
Ein Interessent für das unwirtschaftlich gewordene alte Schiff fand sich schnell in dem 1967 gegründeten South Street Seaport Museum in New York, dessen Eigentümer, die J. Aron Charitable Foundation, einen repräsentativen Großsegler für ihr noch junges Museum suchten. Für 70.000 Dollars (damals etwa 400.000 DM) wechselte der ehemalige Flying P-Liner im Schlepp über den Atlantik. Das Schiff erhielt von seinen neuen Eigentümern wieder den Namen PEKING und wurde weitgehend originalgetreu restauriert, zumindest äußerlich. Doch das ist eine andere Geschichte.

Heute befindet sich am alten Liegeplatz der ARETHUSA (II) in Upnor ein Erziehungszentrum für benachteilige Kinder aus den Slums der britischen Innenstädte mit Kletterwand, Kajaks, Motorbooten und einem breiten Angebot an anderen sportlichen und Umwelt-bezogenen Kursen. Der Name „The Arethusa Venture Centre" hält die Erinnerung an die drei ARETHUSAS lebendig. Die Gesellschaft hat von ihrer Gründung im Jahre 1843 bis heute mehr als 60.000 Kindern und Jugendlichen auf ihrem Lebensweg geholfen, wobei die PEKING / ARETHUSA (II) über Jahrzehnte die tragende Rolle spielte.

Autor: Ch. Hieber, Kaliningrad